Die anhaltende Umsiedlung von zehntausend Familien aus der Tempelanlage Angkor Wat durch die kambodschanische Regierung kommt einer massenhaften Zwangsräumung gleich, erklärte Amnesty International heute und forderte die Behörden auf, diese Menschenrechtsverletzung unverzüglich zu beenden.
Im März führte Amnesty International persönliche Interviews mit mehr als 35 Personen aus der Umgebung von Angkor Wat und Run Ta Ek, dem ersten von zwei geplanten Umsiedlungsstandorten. Die Untersuchungen ergaben, dass die von den Behörden wiederholt als “freiwillig” bezeichneten Vertreibungen alles andere als freiwillig sind, denn die Bewohner*innen berichteten von impliziten Drohungen, wenn sie nicht umziehen würden.
Die Untersuchung zeigte auch, dass es an angemessenen Schutzmaßnahmen gegen Zwangsräumungen gemäß internationalen Menschenrechtsstandards mangelt, einschließlich des Fehlens einer angemessenen Vorankündigung vor den Räumungen und einer echten Konsultation der betroffenen Menschen zum Räumungs- und Umsiedlungsprozess.
“Dies sind getarnte Zwangsräumungen in großem Maßstab. Die Menschen wurden unter Druck gesetzt, sich freiwillig zu melden, und es wurde ihnen Angst vor Repressalien gemacht, wenn sie sich weigerten zu gehen oder die Räumungen anzufechten”, sagte Ming Yu Hah, stellvertretende Regionaldirektorin für Kampagnen bei Amnesty. “Die kambodschanischen Behörden sollten diese schädliche Räumungsaktion, durch die Tausende von Familien ernsthaft zu verarmen drohen, sofort stoppen.”
Gemäß den UN-Grundprinzipien und Leitlinien für entwicklungsbedingte Umsiedlungen müssen die Umsiedlungsorte neben anderen Menschenrechten die Bereitstellung von Trinkwasser, Häusern, sanitären Anlagen und Zugang zu Schulen vorsehen, bevor die vertriebenen Familien am Ort ankommen. Seit Ende 2022, als die ersten Familien in Run Ta Ek ankamen, wurden ihnen bei ihrer Ankunft keine Häuser, kein sauberes Trinkwasser und keine geeigneten Toiletten zur Verfügung gestellt.
Ein Mann sagte, er habe sechs Kinder und 14 Enkelkinder, mit denen er früher in unmittelbarer Nähe gelebt habe, aber durch das System der Landzuweisung seien sie alle weit voneinander entfernt. Eine andere Bewohnerin, die jahrzehntelang bei ihren Nachbarn gelebt hatte, sagte: “Unsere Dörfer sind nicht mehr zusammen – die Familien sind jetzt durcheinander.”
Der Bauer und Schreiner Karuna* berichtete Amnesty International, dass seine Familie durch die Umsiedlung von den Einnahmen aus dem Tourismus und den Ernten abgeschnitten wurde und er einen langen Arbeitsweg in die Stadt Siem Reap zurücklegen musste, wo sich die antiken Tempel von Angkor Wat befinden. Siem Reap ist 38 Kilometer von der Umsiedlungsstätte Run Ta Ek entfernt.
“An meinem ersten Tag hier fing ich an zu weinen”, sagte er.
Eine Mutter mit einem Säugling erzählte Amnesty International, dass sie unter einer Plane schläft, die ihr die Regierung zur Verfügung gestellt hat, während ihr Mann ihr Haus in Run Ta Ek baut. “Unser Baby kann nicht schlafen, es ist zu heiß”, sagte sie. “Es gibt keine Bäume.”
Keine Wahl
Die Tempel von Angkor Wat, die aus dem 9. bis 15. Jahrhundert stammen, gehören zum UNESCO-Weltkulturerbe und sind das beliebteste Touristenziel in Kambodscha, das vor der Pandemie schätzungsweise zwei Millionen Besucher pro Jahr anzog.
Nach dem Ende der Schließungen, dem Wiederanstieg der Touristenzahlen auf das Niveau vor der Pandemie und einer wachsenden Bevölkerung in der Umgebung der Tempel sagte der kambodschanische Premierminister Hun Sen in einer Rede am 3. Oktober 2022, dass der Schutz von Angkor Wat als UNESCO-Weltkulturerbe bedeute, dass Tausende von Familien, die dort leben, das Land verlassen müssten.
Hun Sen teilte den Familien, die noch nicht umgezogen sind, mit, dass sie keine Entschädigung erhalten werden, und sagte: “Wenn die Zeit gekommen ist, wird es nicht einmal ein Cent geben”. Um zu verhindern, dass Angkor von der Liste des Weltkulturerbes gestrichen wird, sagte er, dass “die Familien natürlich gehen müssen”. In Medienberichten erklärte die UNESCO, dass sie nicht zur Umsiedlung der Bevölkerung aufgerufen habe.
Wenn die Bewohner*innen “freiwillig” gehen, erhalten sie eine Barzahlung von rund 300 USD, ein Stück Land, Wellblechplatten, Lebensmittel für zwei Monate, ein Moskitonetz, eine Plane und eine ID-Poor-Karte, die Zugang zu staatlichen Leistungen gewährt. Das “ID Poor”-Programm, das von den Regierungen Australiens und Deutschlands unterstützt wird, bietet Bargeldzahlungen zur Unterstützung der Bedürftigsten.
Amnesty International befragte mehrere Bewohner, die die öffentlichen Äußerungen des Premierministers zitierten und sagten, sie hätten keine andere Wahl als zu gehen. “Wenn wir nicht gehen, wissen wir nicht, was passieren wird”, sagte einer. Sie sagten auch, dass Beamte der APSARA-Behörde, einer von der Regierung unterstützten Gruppe, die für die Verwaltung der Stätte von Angkor Wat gegründet wurde, mehrmals zurückkamen, um zu fragen, warum sie sich noch nicht freiwillig gemeldet hätten.
“Dreimal kamen sie wieder, und jedes Mal sagte ich ‘Nein, ich gehe nicht’. Aber jetzt gehe ich doch. Ich habe Angst”, sagte ein Bewohner.
Versteckte Drohungen
Laut dem Ausschuss für wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte der Vereinten Nationen ist eine Zwangsräumung “die dauerhafte oder vorübergehende Entfernung von Einzelpersonen, Familien und/oder Gemeinschaften aus ihren Häusern und/oder von dem Land, das sie bewohnen, ohne dass ihnen angemessene Formen des rechtlichen oder sonstigen Schutzes zur Verfügung gestellt werden und sie Zugang dazu haben”.
Keine der von Amnesty International befragten Personen wurde im Hinblick auf die Räumung und Umsiedlung in einen echten Konsultationsprozess einbezogen oder mit Informationen versorgt, die ihnen den Zugang zu angemessenen Formen des rechtlichen oder sonstigen Schutzes ermöglichten.
Als Beamt*innen im vergangenen Jahr damit begannen, die Grundstücke von Häusern in Angkor Wat zu vermessen, hüllten sie sich in Schweigen über die Gründe, und die Bewohner*innen machten sich Hoffnungen, Landtitel zu erhalten, bevor dieselben Beamt*innen Wochen später zurückkehrten und die Bewohner*innen aufforderten, “freiwillig zu gehen”. Auf dem Gelände des Weltkulturerbes Angkor Wat leben schätzungsweise einhunderttausend Menschen, viele von ihnen schon seit mehreren Generationen.
Die Massenvertreibung wurde in der zweiten Jahreshälfte 2022 verstärkt, als Beamt*innen von Haus zu Haus gingen, Messungen vornahmen und Ausweispapiere überprüften, ohne den Bewohner*innen den Grund dafür zu nennen. Die Bewohner*innen schilderten ihren Schock und ihre Angst, als die Behörden Wochen später zurückkamen und sie aufforderten, freiwillig nach Run Ta Ek zu gehen.
Die APSARA-Behörden bedienten sich subtiler Taktiken, um sie dazu zu bewegen, “freiwillig” zu gehen, indem sie den Familien beispielsweise keine Informationen darüber gaben, was passieren würde, wenn sie nicht gingen, oder ihnen suggerierten, dass sie nichts bekommen würden, wenn sie warteten.
In den direktesten Drohungen teilte APSARA den Familien mit, sie könnten bleiben, wenn sie wollten, aber ihre Häuser würden überflutet werden.
Eine ca. 80 jährige Frau weinte, nachdem sie gesagt hatte, sie habe sich “freiwillig” entschieden, ihre Heimatstadt zu verlassen. “Ich habe mich entschieden, mit der Angst zu gehen”, sagte ein anderer Bewohner.
Lastwagen mit Soldat*innen, die das Material transportierten, waren während des Untersuchungszeitraums ebenfalls ein häufiger Anblick, und obwohl dies als Hilfe für die Familien angepriesen wurde, sagten viele Bewohner*innen, dass sie für die Mahlzeiten der Soldat*innen bezahlen oder ihnen Essen kochen mussten.
Amnesty International fordert die kambodschanische Regierung und ihre Partner bei der Verwaltung von Angkor Wat auf, dafür zu sorgen, dass die Erhaltung des Kulturerbes nicht auf Kosten des Schutzes und der Förderung der Menschenrechte geht.
“Angkor Wat ist ein nationaler Schatz und ein lebendiges Erbe für das kambodschanische Volk. Seine Erhaltung und die Bewahrung der reichen Kulturgeschichte Kambodschas sollten Hand in Hand mit dem Schutz der Menschenrechte gehen und nicht der Grund für grobe Menschenrechtsverletzungen sein”, sagte Ming Yu Hah von Amnesty.
*Namen wurden geändert, um die Befragten vor möglichen Repressalien zu schützen.